Poesie mit Wind
Ich weiss nicht genau, warum Natur und Lyrik in meiner inneren Welt so eng miteinander verbunden sind. Mag sein, dass das gar nicht weiter verwunderlich ist und die grossen deutschen Romantiker der Schulzeit da vorwiegend Schuld daran haben. Sicher hat im vergangenen Jahr die Wanderung auf jenem kleinen Wald-Hiking-Trail in Wilmington, VT, wo die lokale Bibliothek Gedichte an verschiedenen Bäumen befestigt hatte, diese Bindung wieder in Erinnerung gerufen. Und zweifelsohne stehen Rachels Briefe damit im Zusammenhang. Aus zwei Gründen: Zum einen gehört sie zu den Menschen, deren geschriebenes Wort eine soweit lyrisch anmutende Sprachmelodie in sich trägt, dass man sich die Zeilen stets selbst vorlesen möchte. Und das passiert, zumindest mir, nur sehr selten. Und der andere Grund? Rachel arbeitet in einem State Park. Und genau dahin haben wir uns nunmehr in drei kleinen Hiking-Expeditionen aufgemacht.
Schon verrückt: Dank ihrer Fotos und Beschreibungen setzt sich da über die Jahre im Kopf ein schon mittelmässig detailliertes Bild zusammen. Man „kennt“ einige Spots, jene Sitzbank auf dem Aussichtspunkt, eine Brücke, dann den Picknickplatz am kleinen Teich und die etwas längeren Trails, die zum Fluss hinunter führen. Wie in einem Jugendroman, der auf eigenen Seiten diese Illustrationsskizzen aufweist. Und dann plötzlich steht man selber da, und die Fotos im Kopf fügen sich, mal mehr, mal weniger nahtlos, in die Landschaft ein. Man sieht, wie das Foto weitergehen würde, bekommt eine räumliche Vorstellung. Ein klein wenig erinnert es mich an die berühmte Szene aus Mary Poppins, in der Mary, Bert und die Kinder in ein Bild hineinspringen. Aus zweidimensionalen Ideen wird ein dreidimensionales Ganzes, in das man eintauchen kann, mit Wind, Geräuschen, Düften. Mit stahlblauem Himmel am ersten Tag und mit dynamischer Bewölkung am zweiten. Auf Zeit erlebbar gemachte Lyrik, sozusagen. Eine geborgte Wirklichkeit. Das müsste man schreiben können.
Da und dort setzen wir uns hin, plaudern, tauschen Gedanken aus, schlagen einzelne spezielle Pflanzen nach, wie etwa den Milchorangenbaum – Die meiste Zeit verbringe ich aber damit, die Natur, die Farben, das Präriegras und den Park als Teil von Rachels Welt auf mich wirken zu lassen.
Später setze ich mich an eine der Picknickbänke und probiere mit der GoPro-Kamera einen (natürlich abermals zweidimensionalen) Moment einzufangen. Ich stelle mir vor, wie ich aus der halben Stunde State-Park-Stille mit Wind und Vogelgezwitscher leicht in eine Endlosschleife machen könnte, die ich mit nachhause nehme. Das nächste Mal, wenn ich mich im Grossraumbüro von Winterthur von den Telefonaten der Arbeitskollegen zu abgelenkt fühle, weiss ich ganz bestimmt, wohin mich meine schallisolierten Kopfhörer entführen werden.